Kritik statt Vorabdruck
Autor wehrt sich gegen Verriss seines unveröffentlichten Romans
Der Mitherausgeber und Feuilletonchef einer Tageszeitung veröffentlicht am 29. Mai 2002 einen offenen Brief an einen Schriftsteller, in dem er dessen noch unveröffentlichten neuen Roman kritisiert und darlegt, warum entgegen bisheriger Übung das neue Werk des Schriftstellers in seiner Zeitung nicht vorab gedruckt wird. Unter Verweis auf verschiedene Textpassagen und auf eine scharfe Kritik an der Person eines prominenten Literaturrezensenten wird dem Autor ein antisemitischer Unterton vorgeworfen. Der Anwalt des Schriftstellers beschwert sich beim Deutschen Presserat mit der Feststellung, sein Mandant werde durch diese Veröffentlichung einer beispiellosen Vorverurteilung ausgesetzt. Durch die Ablehnung des Vorabdrucks sei die Zeitung aus Rechtsgründen gehindert, den neuen Roman auch nur in Zitaten vor seiner Veröffentlichung darzustellen. Gleichwohl habe der Feuilletonchef unter massivem Bruch des der Zeitung entgegengebrachten Vertrauens anhand selektiver Zitate aus der Arbeitsfassung des Romans und in manipulativ anmutender Weise dem uninformierten Leser das Bild eines antisemitischen Werkes vermittelt. Ein noch nicht veröffentlichtes und noch nicht einmal fertiggestelltes Werk könne nicht Gegenstand einer zulässigen öffentlichen Kritik sein. Die Öffentlichkeit habe das Buch erst am 26. Juni 2002 zur Kenntnis nehmen können. Die Geschäftsführung der Zeitung hingegen erklärt, das Manuskript wie auch die später umstrittenen Zitate daraus seien bereits lange vor der Veröffentlichung der Kritik kursiert. Die in dem offenen Brief in Bezug genommenen Textstellen hätten mit nur unmaßgeblichen kleinen Abweichungen exakt den Passagen entsprochen, wie sie später dann auch in Buchform veröffentlicht worden seien. Der Schriftsteller selbst habe sich an die Redaktion mit dem Ziel gewandt, eine Vorabveröffentlichung seines Manuskripts zu erhalten. Dass die Publizierung des neuen Werkes anders als erwartet ausgefallen sein möge, impliziere für sich genommen keinen Verstoß gegen die Berufsethik. Die Vorwürfe, dass das neue Buch antisemitische Passagen enthalte, seien dezidiert begründet worden. (2002)