Vorverurteilung
Angeklagter wird vor seiner Verurteilung als Mörder bezeichnet
Ein Mann steht vor Gericht. Er soll eine junge Frau ermordet haben. Ein Boulevardblatt berichtet über den elften Verhandlungstag. Der Angeklagte wird mit vollem Namen genannt. In der Überschrift wird er als Mörder bezeichnet. In der Unterzeile zu dem beigestellten Foto des Mannes wird mitgeteilt, dass sich der „Mörder“ zwei neue Verteidiger genommen und die alten wegen Unfähigkeit gefeuert hat. Die neuen Anwälte lehnen das Gericht wegen Befangenheit ab. Einer von ihnen wird mit dem Satz zitiert: „Das Gericht sorgt für eine aufgepeitschte Pogromstimmung der Presse“. Die Rechtsvertretung des Beschuldigten wendet sich an den Deutschen Presserat mit der Feststellung, dass die Wahl des Begriffs „Mörder“ vorverurteilend sei. Der Anwalt beklagt zugleich, dass er falsch zitiert worden ist. Die Rechtsabteilung des Verlages betont, der Angeklagte habe sich der Polizei gestellt und die Tat gestanden. Im Hinblick darauf sei in dem kritisierten Beitrag die Bezeichnung „Mörder“ verwendet worden. Später habe sich der Angeklagte zur Sache überhaupt nicht mehr geäußert. Insoweit sei die Redaktion von dem ursprünglichen Geständnis ausgegangen. Da der Angeklagte mittlerweile zu der ursprünglich in seine Verantwortung genommenen Tat offensichtlich nicht mehr stehe, werde die Redaktion vor Verurteilung oder einem erneuten Geständnis die Bezeichnung „Mörder“ nicht mehr verwenden. Die Rechtsabteilung weist darauf hin, dass in einem Ablehnungsgesuch gegen die amtierenden Richter folgender Absatz enthalten sei: „Die vorliegende Hauptverhandlung ist mit neuen Schöffen und eingearbeiteten Verteidigern originär von vorne zu beginnen, alles andere würde diesen Kriminalprozess zu einem aus rechtsstaatlicher Sicht apokalyptischen Szenarium umgestalten“. Damit werfe der Verteidiger dem Gericht vor, bei Ablehnung des Befangenheitsantrages gleich einer Meute von unbändigen Rächern zu handeln. Mit der Behauptung, es sei unsachlich berichtet worden, wenn es in der Veröffentlichung heiße: „Das Gericht sorgt für eine aufgepeitschte Pogromstimmung der Presse“, sei dieser Vorwurf nicht mehr vergleichbar. Letztendlich habe der Beschwerdeführer dem Gericht mit seinem Vorwurf, dass es gegebenenfalls den Prozess zu einem „apokalyptischen Szenarium“ umgestalten werde, vorgehalten, für eine angebliche Pogromstimmung zu sorgen. In der Begründung heiße es zudem: „Gerade in Verfahren wie dem vorliegenden, in dem durch vereinzelte auflagenstarke Presseorgane der Anschein von aufgepeitschter Pogromstimmung gegen den Angeklagten gesetzt wird, hat ein Gericht empfindlich darauf zu achten, dass die Verteidigungsrechte des Angeklagten gewahrt werden. Wenn sie den Anschein setzt, dies nicht in der gebotenen ... und Konsequenz zu tun, setzt sie zugleich den Anschein von Befangenheit“. Letztlich habe der Verteidiger damit dem Gericht für den Fall, dass es sich nicht für befangen erklärt, durchaus unterstellt, für eine angebliche Pogromstimmung zu sorgen. (2000)