Interview mit Geiselnehmern
Eine Boulevardzeitung berichtet über ein während der Tat mit den Geiselnehmern von Fulda/Driedorf geführtes Telefoninterview. Der Mitarbeiter der Zeitung befragt die Täter nach ihren Forderungen, wohin sie nach ihrer Flucht wollen, erkundigt sich nach dem Befinden der Geiseln und, in Anspielung auf das Geiseldrama von Gladbeck, ob ein ähnliches Ende wie dort zu erwarten sei. Ein Konkurrenzblatt veröffentlicht Passagen eines Interviews, das ein privater Fernsehsender über Autotelefon mit den flüchtigen Gangstern geführt hatte. Auch in diesem Gespräch werden die Gangster nach ihren Plänen und die Geiseln nach ihrem Befinden gefragt. Außerdem geht es um die im Autobefindliche Handgranate. Konkret heißt es in dem veröffentlichten Interview: »Haben Sie an der Handgranate den Stift schon gezogen?«. Eine Journalistin sieht in beiden Veröffentlichungen Verstöße gegen Ziffer 11 des Pressekodex und Richtlinie 11.5. Danach darf es Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens nicht geben: Die Chefredaktion des ersten Boulevardblattes erläutert, dass der Mitarbeiter, der das Telefoninterview geführt hat, nicht gewusst habe, dass die Geisel-Gangster zwischenzeitlich das Fahrzeug eines Kameramannes des TV-Privatsenders gekapert hatten. Es sei nachvollziehbar, dass der Redakteur den Hörer nicht aufgelegt, sondern die in der Zeitung veröffentlichten vier Fragen gestellt habe. Es sei also ein zufälliges Gespräch gewesen, auf das allerdings in dem Moment des Geschehens kein Journalist verzichtet hätte. Die zweite Boulevardzeitung verweist darauf, dass dieser spektakuläre Fall in sämtlichen Medien ausführlich besprochen worden sei. Über eine Nachrichtenagentur sei die Redaktion davon unterrichtet worden, dass der private Fernsehsender einen der Verbrecher über Autotelefon im Fluchtwageninterviewte. Das Interview sei in der Agenturmeldung in Auszügen wiedergegeben worden. Auch die Pressestelle des Senders habe sämtliche Redaktionen unter gleichem Datum über das Interview unterrichtet. Der Sender selbst habe das Interview erstmals in die Öffentlichkeit gebracht. Die Zeitung reklamiert das Recht zum Abdruck dieses Interviews unter Verweis auf die Chronistenpflicht der Presse. Denn nach der öffentlichen Bekanntmachung habe keine Veranlassung mehr bestanden, nicht darüber zu berichten, dass ein solches Gespräch zwischen dem TV-Sender und den Verbrechern stattgefunden habe. Die Zeitung erwähnt schließlich, dass sie das Interview an einigen Stellen bewusst gekürzt habe. Die Kürzung sei erfolgt, um eine Heroisierung der Verbrecher zu vermeiden. (1994)