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Gerüchte

Eine Boulevardzeitung verkündet ein “Selbstmord-Drama in einem Kinderheim”. Danach soll ein 8jähriges Mädchen auf das Gerücht hin, die Mutter wolle es umbringen, ohne Zustimmung der Mutter in das Kinderheim eingewiesen worden sein. Dort, so die Zeitung, sei es wegen der Trennung von seiner Mutter aus dem ersten Stockwerk gesprungen und dabei lebensgefährlich verletzt worden. Die verzweifelte Mutter wird zitiert. Das Gerücht sei eine Lüge. Sie könne ihr Kind nicht besuchen, wisse noch nicht einmal, in welchem Krankenhaus es liege. Jetzt müsse sie ihr Recht einklagen. Der Autor des Beitrags erwähnt abschließend, dass Jugendamt, Heim und Vormundschaftsgericht zu dem Fall schweigen. Illustriert ist der Bericht mit einem Foto der Eltern, des Kinderheims und des angeblich eingesperrten Mädchens. Letzterem sind die Augen abgedeckt. Ein Verein als Träger des Kinderheims beschwert sich beim Deutschen Presserat. In dem Kinderheim habe kein Selbstmordversuch stattgefunden. Auch die Behauptung, die Mutter habe ihr Kind nicht besuchen dürfen, entspreche nicht den Tatsachen. Die Angaben beruhten auch nicht auf einer möglicherweise falschen Aussage der Mutter. Diese habe in einem Fernsehinterview ausgesagt, dass sie dem Autor des Artikels zu keinem Zeitpunkt ein Interview gegeben habe und dass alle Angaben in dem Zeitungsartikel jedenfalls nicht von ihr stammten. Die Bemühungen des Journalisten hätten sich auf einen einzigen Telefonanruf beim Kinderheim beschränkt. Das Foto vom angeblichen Kinderheim zeige vielmehr das in der Nachbarschaft gelegene Gebäude des Städtischen Gymnasiums. In einer Stellungnahme des zuständigen Jugendamtes zu der Veröffentlichung heißt es, die Mutter sei über den jeweiligen Aufenthaltsort ihrer Tochter informiert gewesen, habe aber zu keiner Zeit mit dem Kind Kontakt aufgenommen. Der Wahrheitsgehalt des Beitrags beschränke sich darauf, dass das Mädchen von einer Sozialarbeiterin des Jugendamtes wegen einer akuten Gefährdung seines Wohls in der Schule abgeholt und in dem Heim untergebracht worden sei, dass es jetzt stationär behandelt werden müsse. Der Verein hatte bislang ergebnislos versucht, einen Gegendarstellungsanspruch gerichtlich durchzusetzen. Die Rechtsabteilung der Zeitung erklärt, die Eltern des Mädchens hätten die Redaktion um Hilfe gebeten und darauf hingewiesen, dass sich das Mädchen umbringen wolle. Der Autor des Beitrags habe daraufhin das Jugendamt, das Vormundschaftsgericht, die Kinderklinik und das Kinderheim um Informationen gebeten, von keiner Stelle aber Auskünfte erhalten. Da der von der Zeitung vorgetragene Sachverhalt von den zuständigen Stellen nicht dementiert worden sei und die Zeitung keinen Grund gehabt habe, den Eltern zu misstrauen oder an ihren Behauptungen zu zweifeln, sei der Bericht veröffentlicht worden. Der Redaktion sei unerklärlich, warum die Eltern nunmehr behaupten, sie hätten nie mit einem Mitglied der Redaktion gesprochen. Die Veröffentlichung des angeblich falschen Fotos sei ein Irrtum. (1996)