Leserbrief
Ein Redakteur einer Tageszeitung beschreibt, wie sein Sohn auf dem Schulweg von einer Bande jugendlicher Türken überfallen, verprügelt und ausgeraubt wurde. Sechs Wochen später druckt die Zeitung einen anonymen Leserbrief ab, in dem u. a. festgestellt wird: »Wir haben aus vollem Herzen gelacht und gebrüllt. Erbitten Anschrift der mutigen türkischen Banden, um 1.000 DM Belohnung zu zahlen für krankenhausreife Zurichtung des perversen (Name des Opfers).« In dem Text, der weitere extreme Aussagen enthält, wird behauptet, dass die Schreiber 28 Schüler eines namentlich genannten deutschen Gymnasiums seien. Der Direktor der Stadt, in der die Schüler beheimatet sind, bemängelt in einer Beschwerde beim Deutschen Presserat die Vorgehensweise der Zeitung. Sie veröffentlicht einen anonymen Leserbrief trotz vorangegangener Korrespondenz, in der betont wurde, dass kein Anlass bestünde anzunehmen, dass tatsächlich Schüler des Gymnasiums Verfasser dieses Briefes sein könnten. Mit der Veröffentlichung sei der Eindruck erweckt worden, das Gymnasium sei Keimzelle neonazistischen Gedankenguts, das Schüler wie Lehrer gleichermaßen tatsächlich verurteilten. Die Redaktion teilt mit, dass man sich für die Veröffentlichung entschieden habe, weil der Schmähbrief für derartige schriftliche Exzesse typisch sei. Man habe mit seiner Veröffentlichung beweisen wollen, dass die Zeitung und mit ihr das anständige Deutschland auf der Seite der jungen Menschen stehen. Grundsätzlich erkennt die Redaktion an, dass anonyme Briefe nicht veröffentlicht werden sollen. Von dieser Regel gebe es aber Ausnahmen. Beispielsweise die sogenannten Bekennerbriefe radikaler Organisationen und auch rechtsextreme und rassistische Drohbriefe. Die Öffentlichkeit müsse wissen, dass es in der Bundesrepublik Menschen gebe, die es für angemessen halten, diejenigen zu bedrohen und zu beschimpfen, die für die verfassungsmäßige Ordnung eintreten. Solche Aktionen zu verschweigen, würde nazistische Gefahren, die zweifelsfrei bestehen, leugnen. Den Schülerinnen und Schülern sei ein Gespräch angeboten worden. Ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung des anonymen Leserbriefs erscheint unter der Rubrik »Jugend schreibt« ein Beitrag, in dem der verantwortliche Redakteur feststellt, die Schüler des Gymnasiums würden sagen, die Autoren des Schmähbriefs seien nicht unter ihnen zu suchen. (1992)