Nachruf
„Eine tragische Erscheinung“ betitelt eine Lokalzeitung ihren Nachruf auf einen ehemaligen Redaktionskollegen. Darin lobt und tadelt sie zugleich. Der Verstorbene sei ein profunder Kenner der lokalen Szene gewesen und habe mit einem bemerkenswerten geisteswissenschaftlichen Hintergrund sowie einer sprachlichen Diktion, wie sie in dieser Ausprägung nur selten anzutreffen sei, in seiner ihm eigenen „Schreibe“ das Leben seiner Heimatstadt transparent gemacht. Allzu deutlich habe er seine Redaktionskollegen seine Geringschätzung spüren lassen. Sie wiederum hätten an ihm bemängelt, dass er u.a. vom Zeitungsmachen und von den Bedürfnissen der Leser nichts verstehe, permanent Nachricht und Meinung vermische. Schließlich wird erwähnt, dass es dem Verlag nicht gelungen sei, den talentierten Schreiber vom Laster des Alkohols zu befreien und seinen körperlichen Verfall zu stoppen. Ein Leser des Blattes schaltet den Deutschen Presserat ein. Er verweist auf die Richtlinie 8.3, die besagt, dass körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden grundsätzlich in die Geheimsphäre des Betroffenen fallen. Der Verleger der Zeitung, zugleich Autor des Nachrufes, gesteht ein, dass einige Passagen des Beitrags möglicherweise zu harsch geschrieben seien. Darin schwinge jedoch eine Verbitterung darüber mit, dass es ihm nicht gelungen sei, den Redakteur in einer lebenswürdigen Bahn zu halten. Ausführlich schildert er, wie es mit seinem ehemaligen Mitarbeiter ständig bergab gegangen sei. Und wie er sich bemüht habe, dies zu verhindern. Abschließend zitiert er einen „besonnenen, honorigen Bürger“ der Stadt, der ihm bestätigt habe, dass er treffender die Tragik des Verstorbenen nicht hätte herausstellen können: „Wer ihn kannte, wird auch Ihre Empfindungen verstehen.“ (1997)