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Auch verpixelte Missbrauchsfotos transportieren die Täterperspektive

Junge Opfer eines Priesters werden durch Nacktbilder erneut mit ihrem Leid konfrontiert

Eine Tageszeitung berichtet über die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen eines namentlich genannten, inzwischen verstorbenen Priesters. Der Beitrag ist mit Nacktfotos von Opfern bebildert, die aus dem Archiv des Priesters stammen und von der Redaktion in Form eines Filmstreifens angeordnet wurden. Die Gesichter und andere Körperteile sind verpixelt. In der Bildunterschrift schreibt die Zeitung, ihr liege deutlich umfangreicheres und drastischeres Material vor. Vor allem aus Rücksicht auf die mutmaßlichen Opfer zeige die Redaktion nur einen kleinen und vergleichsweise harmlosen Ausschnitt des aufgefundenen Materials. „Es deutet auf ebenso eindeutige wie massive Weise auf jahrzehntelangen Missbrauch hin.“ – Der Beschwerdeführer hält allein den Artikel für anschaulich und drastisch genug, um das Geschehen einzuordnen. Die Fotos der jungen Opfer seien nicht notwendig. Die Abgebildeten seien vermutlich nicht um ihr Einverständnis gebeten worden, und der Beschwerdeführer fragt, was der Blick in die Zeitung bei ihnen wohl auslöse. - Der Chefredakteur äußert sein Verständnis darüber, dass die Berichterstattung tief reichende Emotionen ausgelöst habe. Die Redaktion habe erst nach gründlicher Abwägung entschieden, die sehr kleine und „harmlose“ Auswahl des aufgefundenen Materials zu veröffentlichen. Der Fall des Priesters sei in jeder Hinsicht beispiellos. Hier habe jemand nicht nur über Jahrzehnte Missbrauch betrieben, er habe ihn auch lückenlos dokumentiert und den Opfern dadurch eine zusätzliche Demütigung zugefügt. Außerdem werde die Aufklärung solcher Fälle deutlich gründlicher und energischer betrieben, wenn die Opfer ein Gesicht bekämen (wenn auch verpixelt). Ohne solche Berichte, die zum Auftrag der Presse gehörten, würde der Mantel des Schweigens seine fatale Wirkung weiterhin sehr viel ungestörter entfalten können. Im Übrigen habe sich bislang keines der Opfer bei der Redaktion beschwert. Dies sei kein alleiniger Maßstab, zeige aber, dass die Redaktion hier in Abwägung aller Details einen schmalen Grat offensichtlich richtig getroffen habe. – Der Beschwerdeausschuss spricht einstimmig eine öffentliche Rüge aus. Grundsätzlich besteht an diesem jahrlangen Missbrauch und dem kirchlichen Umgang damit ein großes öffentliches Interesse. Gegen die Text-Berichterstattung bestehen aus Sicht des Ausschusses keinerlei presseethische Bedenken. Ausschlaggebend für den ethischen Verstoß ist die Fotostrecke. Sie zeigt verschiedene Opfer, zum Teil auch mit dem Täter, in übergriffigen, demütigenden und mutmaßlich strafrechtlich relevanten Situationen. Die Fotos stammen aus der Sammlung des Täters und zeigen somit die Täterperspektive. Auch die grafische Einbettung der Fotos in einen „Filmstreifen“ trägt zu dieser Sichtweise bei. Diese Darstellung geht über das öffentliche Informationsinteresse hinaus und überschreitet die Grenze zu einer unangemessen sensationellen Darstellung nach Ziffer 11 des Pressekodex. Die Opfer erfahren durch die Veröffentlichung zusätzliches Leid, und die Darstellung würdigt sie herab. Der Beschwerdeausschuss erkennt an, dass die Redaktion zu dokumentarischen Zwecken eine Auswahl der vergleichsweise weniger drastischen Fotos getroffen hat. Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch die ausgewählten Fotos die Täterperspektive transportieren und es sich um Material handelt, das durch schwere Straftaten an Jugendlichen hervorgebracht wurde. Trotz der Verpixelung liegt auch ein Verstoß gegen den Schutz der Persönlichkeit nach Ziffer 8 vor. Denn die Fotos greifen in die Intimsphäre der abgebildeten Opfer ein. Sie erkennen sich möglicherweise wieder und werden so nach Jahren und mutmaßlich ungewollt erneut mit den Taten konfrontiert.