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Öffentliches Interesse an Verdachtsberichterstattung über Minister Aiwanger

Anderthalb Monate vor der bayerischen Landtagswahl 2023 berichtet eine überregionale Tageszeitung exklusiv darüber, dass der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger im Verdacht stehe, als 17-Jähriger ein antisemitisches Flugblatt verfasst und an seinem Gymnasium ausgelegt zu haben. Mehrere Personen hätten der Redaktion gesagt, Aiwanger sei damals als Urheber zur Verantwortung gezogen worden; der Disziplinarausschuss der Schule habe sich getroffen, und Aiwanger habe ein Referat über das „Dritte Reich“ halten müssen. Er selbst habe diese Behauptungen dementiert und der Redaktion bei einer Veröffentlichung rechtliche Schritte angedroht. Das Flugblatt liege der Zeitung vor. Es rufe zur Teilnahme an einem angeblichen Bundeswettbewerb auf, unter dem Titel „Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“. Bewerber sollten sich demnach „im Konzentrationslager Dachau“ melden, zu gewinnen seien „Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ oder ein „lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“. Das Flugblatt solle an der Schule weithin bekannt gewesen sein, ebenso, dass Hubert Aiwanger als Verfasser dafür zur Verantwortung gezogen worden sei. Ein Lehrer habe ihn damals als überführt betrachtet, da Exemplare in seiner Schultasche gefunden worden seien. Keiner der Zeugen wolle jedoch namentlich genannt werden, aus Sorge vor möglichen dienstrechtlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Schilderungen weiterer Personen legten zudem nahe, dass Aiwanger als Schüler für seine rechtsextreme Gesinnung bekannt gewesen sei. Er habe unter anderem damit geprahlt, Reden Hitlers einstudiert oder dessen verbotenes Buch „Mein Kampf“ gelesen zu haben. Auch diese Darstellung habe Aiwanger zurückweisen lassen. Die Redaktion berichtet weiter, dass dem Politiker auch heute immer wieder vorgeworfen werde, sich weit am rechten Rand und gelegentlich darüber hinaus zu bewegen. Als jüngstes Beispiel nennt die Zeitung eine Rede in Erding, wonach die „schweigende Mehrheit“ sich „die Demokratie zurückholen“ müsse. Mehrere Personen beschweren sich beim Presserat über die Berichterstattung. Es handele sich um eine  Diffamierungskampagne mit Prangerwirkung. Die Redaktion stelle Vermutungen als Fakten dar. Wer ein antisemitisches Flugblatt im Ranzen habe, müsse noch lange nicht dessen Verfasser sein. Einige Beschwerdeführer werfen der Redaktion vor, sie habe Aiwanger keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Ein Beschwerdeführer sieht die Unschuldsvermutung verletzt. In der Online-Überschrift („Aiwanger soll als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst haben“) werde ein Verdacht ausgesprochen, der sich später als falsch herausgestellt habe: Sein Bruder habe sich zu dem Flugblatt bekannt. Aiwangers Dementi sei aber erst hinter der Bezahlschranke erwähnt worden. Einige Beschwerdeführer sehen einen Mangel an Glaubwürdigkeit, da sich der Bericht lediglich auf Vermutungen von anonymen Zeugen stütze. Offenbar lägen auch keine eidesstattlichen Versicherungen vor. Es gebe nicht genügend Beweistatsachen, die eine Verdachtsberichterstattung gerechtfertigt hätten. Die zentrale Behauptung der Autorenschaft Aiwangers sei nicht belegt. Ferner wird darauf hingewiesen, dass Aiwanger damals noch minderjährig gewesen sei; außerdem sei die Schule ein geschützter Raum. Die Informationen hätten deswegen nicht veröffentlicht werden dürfen. Die Tat sei ohnehin schon verjährt. Zum Teil wird auch bestritten, dass das Flugblatt überhaupt antisemitisch gewesen sei. Von anderen wird kritisiert, dass die Zeitung mit ihrer Berichterstattung die Hetzschrift der Öffentlichkeit zugänglich gemacht habe. Weitere Vorwürfe lauten, dass die Redaktion Aiwangers damaliges Alter um ein Jahr zu hoch angegeben habe, dass der Bezug zu seiner angeblichen aktuellen rechten Gesinnung zu dünn sei, dass „Mein Kampf“ nie verboten gewesen und dass keine Einordnung durch Experten erfolgt sei. Ein Beschwerdeführer meint, dass Aiwanger schon wegen seiner Ausdrucksweise („z.T. holprig und unpräzise“) nicht der Verfasser des „in gewisser Weise raffiniert durchkomponiert(en)“ Flugblatts sein könne. Die Berichterstattung sei wohl nur mit einem unbedingten Verfolgungswillen zu erklären. Die Zeitung entgegnet, sie habe nicht behauptet, dass Hubert Aiwanger der Flugblatt-Verfasser gewesen sei, sondern habe lediglich mitgeteilt, dass er in diesem Verdacht gestanden und im mitgeteilten Maße als überführt gegolten habe.