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Auch bei Meinungsbeiträgen müssen die Fakten stimmen

Zeitungskolumne empfiehlt russische „Instagram“-Militärblogger zu unkritisch als Quelle

Eine Tageszeitung veröffentlicht in der wöchentlichen Kolumne ihres stellvertretenden Chefredakteurs einen Beitrag mit dem Titel „Krieg in der Ukraine: Zum Glück gibt es `Telegram´". Der Autor schreibt, er lese regelmäßig auf „Telegram“, was die Szene russischer Militärblogger von sich gebe. „Anders als man meinen sollte, entpuppen sich viele Informationen auf sehr vielen Channels regelmäßig als zutreffend.“ Natürlich stimme nicht alles. Klassische Medien seien vorsichtig, die Informationen wiederzugeben. Russische Quellen zu ignorieren, halte er dennoch für eine schlechte Idee. Dann teilt er „drei aktuelle Beobachtungen“ mit der Leserschaft: Sehr verbreitet seien dort „Abschussvideos“, also Bilder von zerstörtem Kriegsmaterial oder getöteten Menschen. Gehe man nach ihnen, seien seit Beginn der ukrainischen Gegenoffensive eine ganze Reihe Leopard-Panzer beschädigt oder zerstört worden, darunter auch Modelle der Bundeswehr. „Was sagt es aus über den Sinn der Lieferung dieses vermeintlich so wichtigen Materials, wenn nach wenigen Tagen derart viel zerstört ist?“ Als zweites Beispiel nennt er Raketenalarme bei Staatsbesuchen in der Ukraine. Teile einer südafrikanischen Delegation hätten später gespottet, dass es keinerlei Explosionen gegeben habe. „Die Sirenen immer bei Staatsbesuchen – sind sie nur eine Inszenierung?“, fragt der Autor. Für gänzlich unplausibel halte er die These nicht, „wenn man die übrigen gewitzten Mittel der ukrainischen psychologischen Kriegsführung betrachtet, wiewohl es fraglos regelmäßig sehr reale Angriffe gibt“. Das dritte Beispiel des Autors: Bis vor Kurzem habe er nicht gewusst, dass Russland und die Ukraine vor gut einem Jahr bei ihren Friedensgesprächen in der Türkei einen Abschlussentwurf ausgehandelt hätten, der bereits unterschrieben gewesen sein solle. „Wie Putin sagte, hat Russland auf dieser Basis den damals so überraschenden Teilabzug befohlen.“ Die Ukraine habe jedoch in Abstimmung mit Nato-Staaten das Verhandlungsergebnis verworfen. Wie authentisch das Dokument sei, lasse sich nicht überprüfen. „Es gibt aber Hinweise darauf, dass an Putins Version etwas dran ist, wiewohl auch russische Provokationen und Aktionen zum Scheitern beigetragen haben können und der Entwurf ein Datum trägt, an dem die russischen Truppen rund um Kiew ihren Rückzug bereits begonnen hatten. Genau hinsehen muss man also bei Telegram.“ Aber: „Mein Bild der Vorgänge bereichert das sehr.“ - Die Beschwerdeführerin hält den Artikel für einen Sorgfaltspflicht-Verstoß, da der Wahrheitsgehalt der verbreiteten Informationen nicht überprüft worden sei. Zwar habe der Autor die Quelle „Telegram“ als nicht immer glaubwürdig gekennzeichnet, aber die drei daraus entnommenen Beispiele stelle er als Fakten dar, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Außerdem sei der Artikel nicht als Kommentar gekennzeichnet. Ferner verstoße der Autor gegen das Verbot unangemessener Sensationsberichterstattung, indem er darauf verweise, dass auf „Telegram“ Bilder von „Blut und Brutalität“ verbreitet werden könnten. - Die Zeitung weist in ihrer Entgegnung darauf hin, dass der Beitrag in einer persönlichen Kolumne des stellvertretenden Chefredakteurs erschienen und somit eindeutig als Meinungsbeitrag erkennbar sei. „Telegram“ sei zu einer weltweit relevanten Quelle für den Ukraine-Krieg geworden, deren Bedeutung auch in zahlreichen Medien von „Tagesschau“ über „Bild“ bis „Spiegel“ erkannt worden sei. Dass die Informationen wie in jedem sozialen Netz nicht ohne Weiteres als bare Münze genommen werden dürften, habe der Autor mehrfach klar herausgestellt. Im konkreten Fall jedoch könnten keine ernsthaften Zweifel bestehen, dass ein relevanter Anteil der Leopard-Panzer zerstört sei. Zu dem auf „Telegram“ erwähnten Vertragsentwurf heißt es, dass Putin das Dokument teilweise lesbar in die Kamera gehalten habe. Die brutalen „Abschussvideos“ beider Seiten seien Dokumente der Zeitgeschichte. Die Zeitung habe die Aufnahmen aber nicht gezeigt, sondern lediglich ihre Existenz erwähnt. „Von einer überbordenden Sensationsberichterstattung kann keine Rede sein.“ - Der Beschwerdeausschuss spricht eine öffentliche Rüge aus, weil der Artikel in massiver Weise gegen die Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex verstößt. Diese Pflicht gilt auch bei einem Meinungsbeitrag, soweit er Tatsachenbehauptungen enthält. Diese müssen mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt recherchiert und auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft und, wenn nötig, für die Leserschaft eingeordnet werden. In dem beanstandeten Artikel nimmt der Redakteur „Telegram“-Meldungen als Beispiele dafür, warum dort aktive russische Militärblogger eine gute Quelle seien. Er stellt diese Meldungen zum Großteil als Fakten hin, ohne sie einzuordnen oder in einen Kontext zu setzen. Auch die Unterüberschrift („Informationen aus russischen Quellen entpuppen sich regelmäßig als zutreffend“) erweckt den Eindruck, die erwähnten Beispiele seien zutreffend. Denn warum sonst sollte der Redakteur sie für seine These anführen? Zudem stützt er sich auf die Meldungen, um weitere Meinungen zu äußern, etwa zu den Leopard-Panzern. Deshalb sind auch seine Relativierungen (z. B.: „Nicht alles dort stimmt“) nicht geeignet, die Beispiele als reine Gerüchte beziehungsweise Vermutungen erkennbar zu machen. Gerade bei einem so sensiblen Thema wie dem Ukraine-Krieg, über den Propaganda und viele Falschnachrichten zirkulieren, hätte es die journalistische Sorgfalt zwingend geboten, die Beispiele zu prüfen und gegebenenfalls zu kontextualisieren. So wäre es ein Leichtes gewesen, beim dritten Beispiel herauszufinden, dass bei den genannten Verhandlungen unter anderem territoriale Fragen noch nicht geklärt waren und dass die Verhandlungen über den Waffenstillstand spätestens durch die Gräueltaten von Butscha als gescheitert galten. Dass die Kolumne nicht ausdrücklich als Meinungsbeitrag gekennzeichnet wurde, stellt hingegen keine Verletzung des Pressekodex dar; ihm lässt sich keine solche Verpflichtung entnehmen. Auch eine unangemessen sensationelle Berichterstattung kann der Ausschuss nicht erkennen.