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Bilder als Dokumente der Zeitgeschichte

Chefredaktion weist Vorwurf der Pietätlosigkeit nachdrücklich zurück

Die Eltern des Amokläufers von Winnenden haben einen offenen Brief geschrieben, in dem sie den Hinterbliebenen der Opfer ihr Mitgefühl bekunden. Eine überregionale Zeitung berichtet über den Vorgang. Sie beschäftigt sich auch mit den Beisetzungen der Getöteten. Fotos im Beitrag zeigen Beerdigungen, Motive der Trauerfeiern und die Gedenkstätten. Ein Leser sieht einen Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex (Persönlichkeitsrechte). Mit erheblichem Aufwand hätten die Hinterbliebenen versucht, die Opfer ohne Presse beizusetzen. Zahlreiche Fotografen hätten entsprechende Bitten missachtet. Die meisten der Anwesenden hätten in dieser Situation nicht fotografiert werden wollen. Außerdem sei durch die Kameras ein Geräuschpegel wie bei einem Presseempfang entstanden. Die so entstandenen Fotos seien für die Berichterstattung verwendet worden. Die Rechtsabteilung der Zeitung zitiert Richtlinie 8.1 des Pressekodex. Danach sei die Nennung von Namen und die Abbildung von Opfern in der Regel nicht gerechtfertigt. Winnenden sei jedoch kein Regelfall gewesen. Das dortige Geschehen sei die Ausnahme, von deren Existenz der Pressekodex in Richtlinie 8.1 ausdrücklich ausgehe. Die Erschütterung, die der vielfache Mord von Winnenden in der Gesellschaft und in der Politik ausgelöst habe, mache die Berichterstattung über die Tat, den Täter und vor allem die Opfer zu einem unerlässlichen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung. Dies gelte auch für die Diskussion über schärfere Waffen- und Jugendschutzgesetze. Die Redaktion habe es nicht nur für zulässig, sondern gar für geboten gehalten, bei der Abwägung zwischen Persönlichkeitsrechten und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit im Fall Winnenden auch dessen Opfer zu zeigen. Entscheidend dafür war es, einer breiten Öffentlichkeit das Ausmaß der Tragödie wenigstens ansatzweise zu vermitteln. Der Vorwurf des Voyeurismus verdränge oft den ehrlichen Wunsch der Öffentlichkeit, Anteil nehmen zu können. Bei der Recherche vor Ort hätten sich die Redakteure sehr korrekt und sensibel verhalten. Sämtliche Fotos der Trauerfeiern und der Beisetzungen stammten von Nachrichtenagenturen und dokumentierten auf eindrucksvolle Weise die Trauer und Verzweiflung, die im Umfeld der Opfer, aber auch in der ganzen Bevölkerung geherrscht habe. Die Bilder seien Dokumente der Zeitgeschichte. Der Vorwurf, Fotografen hätten die Beisetzungsfeierlichkeiten gestört, sei für die Redaktion nicht nachprüfbar. Sie sei nicht mit eigenen Fotografen vor Ort gewesen. Die verwendeten Bilder zeigten jedoch die Distanz, aus der die Aufnahmen gemacht worden seien, so die Rechtsvertretung weiter. Die Chefredaktion nehme die Kritik an der Berichterstattung sehr ernst. Sie weise jedoch ausdrücklich die Unterstellung zurück, die Redaktion habe die Fotos aus Zynismus, Geschmacklosigkeit, Sensationsgier, Pietätlosigkeit oder mangelndem Respekt vor dem Leid der Angehörigen veröffentlicht. (2009)