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Grausame und provokative Darstellung

Fotos von Totenschädeln in Afghanistan: Informationsauftrag der Medien

In mehreren Ausgaben berichtet eine Boulevardzeitung über schockierende Fotos von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, die einen Totenschädel den Kameras ihrer Kameraden entgegenhalten. Die Überschriften lauten: “Bundeswehr-Skandal in Afghanistan – Schock-Fotos von deutschen Soldaten”, “Totenschändung in Afghanistan - Deutsche Soldaten im Verhör” “Toten-Schändung – Erster Soldat packt aus” und “Immer mehr Schock-Fotos – Was kommt da noch?”. Dem Blatt zufolge präsentierten sich die Soldaten “stolz” mit einem Totenschädel. Die Aufnahmen seien nach Aussage eines Bundeswehr-Angehörigen schon drei Jahre vor der Veröffentlichung aufgenommen worden. In einer Passage des Berichts heißt es: “Die Fotos bringen die vielen tausend Soldaten, die seit Beginn des Einsatzes in Afghanistan mutig und korrekt ihren Dienst taten, in schlimmen Misskredit!” Unklar sei die Herkunft der Gebeine. Nach Aussage eines Bundeswehrangehörigen könnten sie aus einem “Massengrab” stammen. Mehrere Leser der Zeitung wenden sich mit Beschwerden an den Deutschen Presserat. Einer schreibt: “Nicht die alten Fotos einiger gelangweilter ISAF/Bundeswehrsoldaten auf Patrouille finde ich unerträglich, sondern die blutige Aufmachung auf den Titelseiten der …-Zeitung!” In nur fünf Tagen habe es das Blatt geschafft, die Kriegssituation in Afghanistan anzuheizen und den Terror nach Deutschland zu lenken. Mit dem Erscheinen der Bilder würden deutsche Soldaten bei der Bevölkerung die Rolle des Feindes Nr. 1 von den Amerikanern übernehmen. Ein anderer Beschwerdeführer richtet seine Kritik insgesamt gegen die Artikelfolge. Die Veröffentlichung der drei Jahre alten Fotos habe weltweites Aufsehen erregt, das nicht nur dem Ansehen Deutschlands schade, sondern auch das Leben deutscher Soldaten gefährden könne. Er ist der Ansicht, dass die sensationelle Aufmachung nicht das tatsächliche Geschehen wiedergebe: “Da hat nicht Leichenschändung stattgefunden, sondern leichtfertiges, unüberlegtes Spiel mit Totenschädeln, die zufällig aus lange zurückliegenden Ereignissen u. a. in einem Kiesbett aufgefunden worden sind.” Eine Leserin beklagt, dass die Pietät gegenüber toten Menschen durch die Veröffentlichung in Millionenauflage stärker verletzt worden sei als durch das Kursieren privater Fotos in Soldatenkreisen. Die Berichterstattung sei geeignet, radikale Muslime zu noch mehr Gewalt anzustacheln. Dem journalistischen Ethos hätte es entsprochen, wenn die Zeitung die Fotos an die zuständigen und vorgesetzten Stellen der Soldaten geschickt hätte, mit der Aufforderung, den Sachverhalt durch Ermittlungen aufzudecken. Der Chefredakteur der Zeitung hält die Berichterstattung nach Form und Inhalt für publizistisch veranlasst und gerechtfertigt. Dies schließe die fortgesetzten Veröffentlichungen über mehrere Tage hinweg mit ein. Die Redaktion habe die Ereignisse und die damit verbundene weltweite Reaktion sorgfältig eingeordnet. Die Zeitung habe auch “in gebotenem Rahmen” die Interessen abgewogen. Gerade der Einsatz von Streitkräften bedürfe der öffentlichen Kontrolle durch die Medien. Die Zeitung verkenne nicht ihre Verantwortung gegenüber den Soldaten, die bei ihrem Einsatz Gefahren ausgesetzt sind. Unterdrückung der Berichterstattung könne jedoch nicht die Alternative sein. Die Beschwerdeführer – so der Chefredakteur – verkennen die Funktion einer freien Presse. Eine freie Berichterstattung dürfe nicht der Gewalt oder der Drohung mit Gewalt geopfert werden. (2006)