Masken statt Augenbalken
Reportage über „Problem“-Stadtteil in schonungsloser Offenheit
„Soziale Brennpunkte“ sind das Thema einer zehnteiligen Serie in einer Großstadtzeitung. Der Autor schildert Begegnungen und Gespräche mit Jugendlichen in einem Stadtviertel, in dem jeder dritte Einwohner von Sozialhilfe lebt. Die Beiträge sind mit jeweils einem Foto der Gesprächspartner illustriert. Weil die jungen Leute nicht erkannt werden wollen, tragen sie auf dem Foto Masken. Einer hat sich als Motiv das Gesicht des Terroristenführers Osama Bin Laden gewählt, ein anderer trägt auf dem Bild eine Maske mit dem Gesicht des Saddam Hussein, ein dritter verbirgt sich hinter dem amerikanischen Cartoon- und Filmhelden „Spiderman“. In den Unterzeilen wird erklärt, dass zwischen diesen Figuren und dem Textinhalt dieser Serie kein Zusammenhang besteht. Ein Rechtsanwalt bittet den Deutschen Presserat um eine Prüfung der Serie, die er für erforderlich hält, um für die Zukunft klare Regeln für die Behandlung solcher Problemfälle zu haben. Eine Berichterstattung über soziale Brennpunkte hält er für angebracht und wahrscheinlich auch nötig. Er hat allerdings Zweifel, dass sich die konkrete Form, in der das hier geschehen ist, mit den Publizistischen Grundsätzen des Presserats vereinbaren lässt. Die Beiträge seien ersichtlich nicht aus der Opferperspektive formuliert. Das besage etwa der Satz: „Levent schlägt so heftig zu, dass er zu schwitzen beginnt“. Weiter gehe es in fast voyeuristischer Weise: „Vor ihm, auf dem Boden des Kellers in einem Hochhaus, liegt Benjamin auf dem Bauch. Levent hat dem Jungen befohlen, sich die Hose bis zu den Fußknöcheln herunterzuziehen“. Der Autor und damit die Zeitung geht nach Ansicht des Beschwerdeführers zu nah und zu distanzlos auf den Täter zu. Diese Vorstellung grenze an eine Heroisierung der gewaltbereiten Jugendlichen. Der Anwalt beanstandet ferner in den Beiträgen den Hinweis, dass die Jugendlichen ihre Masken jeweils „gewählt“ hätten. Das deute darauf hin, dass der Verlag sie alsdann gekauft und den Jugendlichen zur Verfügung gestellt habe. Diese Art von Kumpanei lasse sich nicht mit dem Auftrag der Presse vereinbaren. Die Rechtsabteilung des Verlages hält die Beschwerde für unbegründet. Es sei schon lange ein Anliegen der Redaktion gewesen, eine Langzeitbeobachtung eines Stadtteils aus der Sicht einer „Jugendgang“ durchzuführen. Ziel der Reportage sei es, ein realistisches – und damit notwendigerweise schonungsloses – Bild von dem Leben der Jugendlichen zu zeigen. Den Lesern solle vermittelt werden, wie die Jugendlichen ihr Leben sehen und gestalten. Die von den Jugendlichen geschilderten Begebenheiten seien nicht unkritisch übernommen worden. Man habe sie u. a. mit den vor Ort tätigen Sozialarbeitern und Polizeibeamten besprochen und entsprechend gegenrecherchiert. Der Veröffentlichung sei eine dreimonatige Recherche vorausgegangen. Eine unangemessen sensationelle Darstellung sei in der Serie nicht enthalten. Dies sei auch daran erkennbar, dass sich kein einziges „Opfer“ der jugendlichen Täter oder Eltern von Opfern beschwert hätten. Vielmehr habe die Redaktion verschiedene positive Reaktionen erfahren, darunter einen nicht öffentlichen Brief eines Sozialarbeiters, der am Einsatzort beschäftigt sei und alle erwähnten Jugendlichen persönlich kenne. Auch wenn „schonungslose Offenheit“ ein Prinzip der Serie gewesen sei, habe die Redaktion gleichwohl die Menschenwürde der Opfer und die Grenzen einer vertretbaren Darstellung der gewaltsamen Realität gewahrt. Die Idee, statt der üblichen Blende im konkreten Fall Masken zu verwenden, sei deshalb positiv aufgenommen worden, weil mit der Frage nach dem jeweiligen „Idol“ der Jugendlichen eine zusätzliche Information über die Kinder und Jugendlichen zu erhalten gewesen sei. Die Masken und der Umstand, welche Masken jeweils gewählt wurden, rundeten das dokumentierte Bild von der Persönlichkeit der Jugendlichen ab. Die Rechtsabteilung zitiert aus dem Brief des erwähnten Sozialarbeiters: „Da die Kinder und Jugendlichen diese Masken sich laut ihrer eigenen Aussage selbst ausgesucht haben, spiegeln sie lediglich einen Teil ihres inneren Seelenlebens wider, das uns eigentlich besonders interessieren sollte, da es in erster Linie als Wechselwirkung die Erwachsenen betrifft“. Abschließend erwähnt die Verlagsvertretung, dass eine Podiumsdiskussion zur Serie bevorstehe und Schulen darum gebeten hätten, dass ihnen die Serie als Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt werde. (2004)