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Abwägung zugunsten der Meinungsfreiheit

In Leserbriefen können auch radikale Meinungen zu Wort kommen

Ein Nachrichtenmagazin veröffentlicht einen Leserbrief, der Bezug nimmt auf die Berichterstattung des Blattes über den Film „Fitna“ zwei Wochen zuvor. Der Leserbriefschreiber findet die Reaktion einiger Politiker und Medien auf den Film erschreckend. Dann schreibt er den Satz, den ein Leser zum Anlass seiner Beschwerde nimmt: „Jedem normal denkenden Menschen ist inzwischen bekannt, dass der Islam eine menschenverachtende Religion ist und das Ziel verfolgt, sich schnell auszubreiten“. Darin sieht der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen die Ziffer 10 des Pressekodex (Religion, Weltanschauung, Sitte). Der Chefredakteur des Magazins meint, der beanstandete Leserbrief sei nur vor dem Hintergrund der extrem zugespitzten Diskussion zu verstehen, die der umstrittene Koran-Film „Fitna“ ausgelöst habe. In dieser Diskussion gehe es vor allem um die politische Bedeutung des Islam und die These einer Bedrohung der in der westlichen Welt vorherrschenden Freiheiten. Darauf beziehe sich der Leserbrief in erster Linie. Die in dem Leserbrief vertretene Position sei wenig differenziert. Solche Aussagen seien aber in der Gesellschaft in nicht geringem Ausmaß anzutreffen und verboten seien sie auch nicht. Der Pressekodex gelte selbstverständlich auch für Leserbriefe. Ziffer 10 beschäftige sich aber mit religiösen, weltanschaulichen und sittlichen Überzeugungen, nicht jedoch mit dem Hineinwirken von Religionen in den Bereich der Politik. Der Chefredakteur gibt zu bedenken, dass einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die Aktivitäten der Weltreligionen durch presseethische Überlegungen keine allzu engen Schranken gesetzt werden sollten. Zu dem kritisierten Leserbrief sei zudem anzumerken, dass der Leser den fehlenden Mut der Politiker bemängele, „die Dinge beim Namen zu nennen“. Ein Verstoß gegen die Ziffer 10 sei nicht zu erkennen. (2008)