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Nicht einer, sondern fünf Richter sprachen Urteil

Prozess-Berichte über die nachträgliche Sicherungsverwahrung

„Justiz-Schande – Dieser Richter ließ einen Sex-Täter laufen“ titelt eine Boulevardzeitung in ihrer Print-Ausgabe. In Innenteil der Zeitung steht ein Beitrag unter der Überschrift „Warum hat der Richter diesen Sex-Verbrecher laufen lassen?“ Es geht um einen rückfälligen Sex-Täter. Der Mann war trotz der Warnung von Gutachtern nicht verurteilt worden und vergewaltigte 61 Tage nach seiner Entlassung eine junge Frau. Der Artikel ist mit einem Foto des Richters bebildert. Die Bildunterschrift lautet: „Er ließ den Sex-Täter frei.“ Die Umstände der Vergewaltigung werden im Beitrag geschildert. Außerdem blickt die Redaktion auf einen früheren Bericht zurück, in dem es um nachträgliche Sicherungsverwahrung gegangen war. Zitiert wird die Urteilsbegründung durch den genannten Richter: „Die 12. Strafkammer hat unter Anwendung der Rechtsprechung des BGH die Voraussetzung auf die Anordnung der nachträglichen Sicherheitsverwahrung verneint.“ Der Artikel erscheint mit geringen Änderungen auch in der Online-Ausgabe. Beschwerdeführer ist in diesem Fall der Präsident des Landgerichts. Er betont, dass es keine rechtliche Handhabe gegeben habe, die nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuordnen, obwohl auch die Kammer von einer hohen Gefährlichkeit des Täters ausgegangen sei. Die Berichterstattung erwecke den Eindruck, dass der Richter die Entscheidung allein getroffen habe. Tatsächlich hätten jedoch drei Berufsrichter und zwei Schöffen entschieden. Die Zeitung mache den Richter persönlich für die spätere Straftat verantwortlich und stelle ihn an den Pranger. Die Redaktion verschweige zudem, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig sei. Der Richter werde mit vollem Namen genannt. Zudem werde von diesem das Bild eines verantwortungslosen und inkompetenten Richters vermittelt, der eine fatale Entscheidung getroffen habe. Die Zeitung suggeriere, dass der Jurist sich blindlings über die Warnungen der Gutachter hinweggesetzt habe. Die Rechtsabteilung des Blattes verweist auf mehrere frühere Verfahren gegen den Angeklagten. Diese Vorgeschichte verdeutliche, auf welche Anhaltspunkte sich der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Sicherheitsverwahrung beim Landgericht Darmstadt gestützt habe. Die Rechtsvertretung spricht von einer zulässigen Justizkritik. Im Mittelpunkt stehe nicht die persönliche Herabwürdigung des Richters, sondern die Empörung darüber, dass eine Entscheidung des Landgerichts kausal für das Begehen einer schrecklichen Straftat gewesen sei. Bei der Entscheidung der Strafkammer unter Vorsitz des genannten Richters handele es sich um eine abweichende rechtliche Bewertung. Die Rechtsabteilung sieht auch keine Persönlichkeitsrechte verletzt. Über den Richter sei nicht als Privatperson, sondern im Zusammenhang mit seiner öffentlichen Tätigkeit als Richter berichtet worden. Als Richter spreche er Urteile im Namen des Volkes. Er müsse vor diesem Hintergrund hinnehmen, dass über seine Tätigkeit auch personalisierend berichtet werde. Derartige Justizkritik sei für eine funktionierende Demokratie schlicht unentbehrlich. (2010)