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Lebensgeschichte aus dunkler Zeit

Eine Frau wollte, dass ihr Schicksal in der Öffentlichkeit bekannt wird

Eine Großstadtzeitung veröffentlicht einen Nachruf auf eine Frau, die im Bericht mit vollem Namen und ihrer letzten Adresse genannt wird. Ihr Vater sei ein wohlhabender Mann aus jüdischer Familie gewesen. Er sei kurz vor ihrer Geburt gestorben. Wenig später habe die christlich getaufte, nicht-jüdische Mutter erneut geheiratet, wieder einen jüdischen Mann mit einigem Vermögen. Bis in ihr hohes Alter habe die nunmehr Verstorbene geargwöhnt, dass es der Mutter in beiden Ehen vor allem ums Geld gegangen sei. Bis zu ihren letzten Lebenswochen habe sie immer wieder vom Mangel an mütterlicher Liebe gesprochen. Ihre Kinderjahre seien davon ebenso geprägt gewesen, wie ihre Jugendjahre vom Nationalsozialismus. Eines Tages sei die Mutter von einem Besuch in der Dresdner Oper ohne den Vater zurückgekommen. Der Papa sei plötzlich tot gewesen, habe sie den schockierten Kindern erzählt. Die jetzt verstorbene Frau habe nicht wahrgenommen, dass die Mutter vom Tod ihres Mannes erschüttert gewesen sei. Die Zeitung berichtet, zur Beerdigung der Tochter hätten sich viele Freunde auf dem Berliner Waldfriedhof versammelt. Der Enkel der Verstorbenen ist in diesem Fall Beschwerdeführer. Der Artikel verstoße gegen die Ziffer 8 des Pressekodex (Persönlichkeitsrechte). Die im Nachruf erwähnten Inhalte beruhten nicht auf Informationen aus der Familie. Die Großmutter sei nie eine öffentliche Person der Zeitgeschichte gewesen. Der Artikel sei nicht von der Familie autorisiert gewesen und überdies ehrverletzend. Über die Großmutter zu lesen, es sei ihr bei der Wahl ihrer Ehemänner um Status und Prestige gegangen, sei „ein starkes Stück“. Dass ihr Vater ein wohlhabender Mann gewesen sei, möge zwar dem Klischee von Juden entsprechen. Nach seinem Tod sei es aber der Familie zunächst einmal finanziell nicht gut gegangen. Das möge für die Kinder traumatisch gewesen sein, für die Mutter aber auch. Abgesehen davon sei seine Großmutter auf dem Friedhof Heerstraße und nicht auf dem „Waldfriedhof“ beigesetzt worden. Der Chefredakteur der Zeitung erwähnt zunächst, dass der Friedhof Heerstraße in Berlin auch „Walfriedhof“ genannt werde. Er weist darauf hin, dass dem kritisierten Bericht ausführliche Recherchen vorangegangen seien. Die Autorin habe die mittlerweile Verstorbene gut gekannt und mit ihr unter anderem ein mehrstündiges Interview über ihre Lebensgeschichte während der Nazi-Zeit geführt. Die Frau habe mehrmals betont, wie sehr es ihr am Herzen liege, dass ihre Geschichte bekannt gemacht werde. Was sie über ihr teilweise sehr leidvolles Leben berichtet und empfunden habe, werde in dem Artikel aus ihrer Sicht wiedergegeben und sprachlich entsprechend gekennzeichnet. Dass andere Familienmitglieder die Erfahrungen in der Familie anders beurteilen und empfinden, werde damit keinesfalls bestritten.